Dominant Design und seine Auswirkungen auf den Bereich Innovation
Warum ein nagelneues Smartphone-Modell vom Vorgänger kaum zu unterscheiden ist oder weshalb alle Fahrräder in etwa gleich aussehen, hat gute Gründe.
Würden Entwickler:innen etwas abseits der Norm für mobile Kommunikationszentralen oder durch Menschenkraft betriebene Zweiräder erfinden, würden es die Konsument:innen nicht als Handy oder Drahtesel erkennen.
Können Sie sich noch an das Nokia 8110, das so genannte Bananenhandy erinnern, das im ersten Teil der Matrix-Trilogie einen großen cineastischen Auftritt hatte? Vielleicht auch an das Razr V3 von Motorola, das wegen seines schlanken Designs und der edlen Metallhülle als schönstes Handy seiner Zeit galt? Das edle Stück bescherte Motorola im Jahr 2004 schlagartig jenes coole Image, von dem das Unternehmen auch heute noch zehrt. Möglicherweise sagt Ihnen noch der Nokia Communicator etwas? Mit diesem „Ziegel“ war es möglich, Kurznachrichten, E-Mails sowie Faxe zu versenden und die Nutzer:innen konnte mithilfe eines HTML-fähigen Webbrowsers auf das Internet zugreifen.
All diesen Geräten sah man auf den ersten Blick an, dass sie neu waren. Die Kreativität und Ausdauer, ja der Schweiß der Entwickler:innen war all diesen Novitäten sprichwörtlich anzusehen.
Wie Steve Jobs alle Smartphones „gleich“ machte
Mit der Formenvielfalt ist es am Smartphone-Markt längst vorbei. Wenn etwa Samsung bei dem Mobile World Congress 2018 mit dem Samsung Galaxy S9 das vermeintlich beste Handy der Welt präsentiert, dann ist es vom Vorgängermodell kaum zu unterscheiden. Auch die Geräte der Konkurrenz sind meist nur ob des anderen Firmenlogos erkennbar. "Die Tragödie ist, dass wir zwei Dekaden unglaublicher Innovation mit Flip-Phones, Candy-Bar-Telefonen, Slidern, runden Telefonen, quadratischen Telefonen – allerlei verschiedener Dinge hatten", zitiert BBC Ben Wood von der Beratungsfirma CCS Insight in einem Bericht über den Mobile World Congress 2018. Der Experte ergänzt: „Aber die Welt änderte sich 2007, als Steve Jobs das iPhone aus der Tasche zog und das dominierende Design bekam.“ Seitdem habe sich die Branche auf das schwarze Rechteck mit einem Touchscreen als Formfaktor konzentriert.
Dominantes Design ist De-Facto-Standard
Wenn sich eine gesamte Branche auf ein nahezu einheitliches Aussehen oder sich eine Technologie zu einem De-Facto-Standard innerhalb einer Branche oder Industrie entwickelt, dann spricht man von Dominant Design.
Fahrrad: Von der Laufmaschine zum Diamantrahmen
Wie sich ein Dominant Design durchsetzt, ist auch an der Entwicklung des Fahrrades zu erleben. Als dessen Erfinder, Karl Freiherr von Drais, im Jahr 1817 seine Laufmaschine präsentierte, war das „Zweiradprinzip“ das revolutionär Neue daran. Denn dass man sich mit nur zwei Rädern fortbewegen kann, ohne umzukippen, war bis zu diesem Zeitpunkt unbekannt. Drais hat sich das Prinzip vom Schlittschuhfahren abgeschaut, wie er selbst ausführt.
Mit dem heutigen Drahtesel hat die „Laufmaschine“ von damals aber wenig gemein – sie erinnert eher an Geräte, die Kinder nutzen, um das Fahrradfahren zu erlernen. Bevor das Fahrrad sein heutiges Design bekam, wuchs es zunächst einmal zum Hochrad heran, bekam zunächst Vollgummireifen und später vom britischen Tierarzt John Boyd Dunlop Luftgummireifen verpasst. Mit dem Diamantrahmen war dann 1885 die vermeintlich günstigste Grundform für Fahrräder erfunden, die heute trotz aller Innovationen rund um die beste Erfindung der Welt noch dominiert.
Die 3 Phasen im Dominant Design
Das Phänomen Dominant Design haben James M. Utterback (Havard) und William J. Abernathy (MIT) 1975 in ihrem Aufsatz „A Dynamic Model of Process and Product Innovation“ wissenschaftlich untersucht und folgendermaßen beschrieben:
- In der ersten, sogenannten fluid phase, konkurrieren verschieden Technologien miteinander: In dieser Phase verändern die Entwickler:innen die Eigenschaften von Novitäten tiefgreifend. Als Ideengeber:innen dienen Tüftler:innen und Pionier:innen – also eher die Daniel(a)-Düsentrieb-Fraktion. Oder aber die Nutzer:innen selbst geben – etwa als Lead User:innen – entscheidende Impulse. Getrieben werden die Erfindungen von den Bedürfnissen der User:innen, obwohl ihnen diese oft noch gar nicht bewusst sind. Das war etwa sowohl beim iPhone als auch beim Fahrrad der Fall. Die Hersteller:innen versuchen den Konkurrenzkampf durch das aus der Kund:innenperspektive betrachtet beste Produkt zu gewinnen.
- In der transitional phase setzt sich dann ein dominantes Design durch. Die Akteur:innen versuchen nun einen Prozess zu entwickeln, um eine große Nachfrage bedienen zu können. Innovationen betreffen in dieser Phase also die möglichst kosteneffiziente Massenproduktion oder auch zusätzliche technische Features, die sich dem dominanten Design unterordnen. Bei Smartphones wäre das etwa ein besonders leistungsfähiges Kameramodul, bei Fahrrädern die Verwendung von Carbon für den Rahmenbau. Impulse für Novitäten liefern die Hersteller:innen selbst oder sie kommen auch in dieser Phase von User:innen. Produktvarianten, aber auch der Vertrieb dienen als Waffen im Konkurrenzkampf. Generell schwenken die Marktakteur:innen entweder auf das dominante Design ein oder scheiden aus dem Markt aus. Es gibt freilich Ausnahmen. Der einstige Primus am Handymarkt, Nokia, hat beides gemacht: Zunächst Smartphones nach dem von Apple geprägten Aussehen gefertigt, diese mit Betriebssystemen Symbian oder später dann Windows Mobile bestückt und sich dann vom Mobilfunk-Markt verabschiedet.
- Die letzte Stufe des Abernathy-Utterback-Modell (A/U-Modell) ist die specific phase. Das dominante Design hat sich fest etabliert. Grundlegende Produkt- und Prozessveränderungen gibt es nun kaum noch. Der Innovationsgrad ist sehr gering. Die Hersteller:innen feilen an der Qualität ihrer Produkte und versuchen an der Kostenschraube zu drehen. Häufig dienen auch Lieferant:innen in dieser Phase als Ideengeber:innen. Die Produkte selbst sehen alle sehr ähnlich aus.
Das Dominant Design bietet nicht immer die beste Lösung
Das dominante Design stellt nicht immer die beste, sondern oft nur die vermeintlich beste Lösung für ein Problem dar. Auch das zeigen unsere beiden Beispiele – Smartphone und Fahrrad:
- Steve Jobs hat im Jahr 2007 mit dem mobilen Gerät, auf dem sich jeder ohne viel Vorkenntnisse mit Tipp- und Wischbewegungen durchs World Wide Web bewegen kann, sicherlich überrascht. Aus heutiger Sich ist das iPhone-Konzept veraltet. Man muss das Gerät in die Hand nehmen, mit den Fingern oft viel zu kleine Tasten bedienen und trotz der wachsenden Displaygröße ist der Bildschirm immer viel zu klein und schädigt die Augen. Die Grundfunktion des Smartphones – nämlich eine Schnittstelle zwischen Mensch und Internet zu schlagen, lässt sich völlig anders abbilden. Wie das gehen könnte, zeigt etwa das Münchner Startup Braghi. The Dash ist ein intelligentes Earphone, das sowohl als Hear-, als auch als Wearable dient. Warum sollte man das WWW künftig nicht einfach im Ohr, statt in der Hand haben?
- Der Diamantrahmen wiederum ist bei weitem nicht effektivste Art, menschliche Beinkraft in Geschwindigkeit zu übersetzen. So hat Todd Reichert mit seinem selbst konstruierten, voll verkleideten Liegerad „Eta“ im Sommer 2016 eine 200 Meter lange Messstrecke mit einer Geschwindigkeit 144,17 Stundenkilometer absolviert. Auch „Flying Scotsman“ Graeme Obree, der 1993 und 1994 den Stundenweltrekord im Bahnradfahren aufstellte, experimentiert mit alternativen Rahmenformen für Fahrräder: Im September 2013 stellte er auf seinem selbstgebauten Beastie Bike bei den World Human Speed Championships in Battle Mountain (Nevada) einen neuen Geschwindigkeits-Weltrekord in Bauchlage auf. Während Obree’s Interpretation des Drahtesels wohl wenig praxistauglich ist, spricht gegen den Einsatz des Liegerades im Alltag eigentlich nichts – außer, dass dieses Vehikel für viele von uns eben kein „Fahrrad“ ist. Dominant Design neigt eben dazu, sehr starke Anhänger zu haben.
Fazit: Wie sich Dominant Design auf den Bereich Innovation auswirkt
Probleme lassen sich oft auf unterschiedliche Art und Weise lösen – viele Wege führen eben nach Rom. Damit eine Innovation aber massentauglich wird, muss die Mehrheit auch den Umgang damit lernen. Das kann nur gelingen, wenn sich alle Hersteller auf ein Dominant Design einigen oder sich ihm auch unterwerfen, das die Konsument:innen akzeptieren und verstehen. Als einzelnes Unternehmen ein solches Dominant Design zu etablieren, ist unheimlich schwer. Der Innovationsgrad muss extrem hoch sein, damit dem bzw. der Innovator:in genug Zeit bleibt, um seine bzw. ihre Entwicklung am Markt zu etablieren, bevor die Konkurrenz nachzieht und ihren Einfluss auf das Dominant Design geltend macht. Steve Jobs ist dies mit dem iPhone offenbar gelungen. Mittlerweile scheinen die Konsument:innen von dem Dominant Design für Smartphones aber schon gelangweilt zu sein. An einem Produkt, das zwar immer neue Features bietet, aber außen immer gleich aussieht, verlieren die Nutzer:innen Interesse: So gehen die Absatzzahlen für Smartphones weltweit Marktforschern zufolge bereits zurück. Wie groß der Hunger nach Alternativen zum „iPhone-Design“ ist, zeigt der große Erfolg der von HMD aufgelegten Neuinterpretation des Nokia 3310, das nur sehr bescheidene technologische Werte bietet. Offenbar ist jetzt Zeit für etwas wirklich Neues.